Zur Meinungsfreiheit westlicher Gesellschaften 
zählt das Recht zur missverständlichen Überzeichnung.
   04.01.2010 - dradio.de



 

 


Kulturforum
1.2
 

Der Bildungsauftrag eines Theaters wird im keinem Fall erfüllt, wenn z.B. Ferdinand von Walter in Schillers 'Kabale und Liebe' die Wände des Bühnenraumes an Steigeisen erklimmt (eine Absolventin eines bayerischen Gymnasiums mit Einser-Abitur meinte auf die Frage nach dem Stück: "Ach, da war doch was mit 'ner Limonade“), die 'Aida' in einem Einheitsbühnenbild gezeigt wird, das an das Vorzimmer von Herrn Mielke in der Stasizentrale in Berlin erinnert oder der 'Woyzeck' als physisch geschwächter, psychisch geschundener Mensch permanent über die Bühne rennen, an Tauen in den Schnürboden klettern muss, um irgendeinen äußerlichen Inszenierungseffekt zu erzielen, der mit den Intentionen des Autors nichts zu tun hat.

Einer der Hauptgründe des Unvermögens, Inhalte eines Stückes in Verbindung mit ’äußeren Umständen’ zu bringen liegt daran, dass länderabhängig nur noch Wissen und Fertigkeiten – hier in Form von Lesekompetenz – vermittelt wird, die Auszubildenden aber nicht mit den ’Nebenschauplätzen’ (Zeit des Ablaufs des Stückes, soziale Hintergründe, geschichtliche / politische Gegebenheiten) eines Werkes vertraut gemacht werden und die Theater dann auch nicht ihre Aufgabe darin sehen, das Publikum durch äußere Effekte zu unterhalten und besonders in Klassikeraufführungen an falschen Stellen zu falschen Reaktionen zu bringen.

Im Falle der ’Tosca’ wird durch die Theaterpädagogik der Staatsoper Hannover den Lehrern Material zu Verfügung gestellt, in dem das Regieteam im Gespräch mit dem Chefdramaturgen feststellt, dass dieses Stück ursprünglich an einem historisch genau festgelegten Tag und Ort, genaugesagt zwischen dem 17. und 18. Juni 1800 in Rom, zur Zeit der napoleonischen Kriege spielt.


Das Übertragen der Hannover’schen ’Tosca’ vom realen 14. Juni 1800 zunächst in eine willkürliche Zeit zwischen dem 17. und 18. Juni 1800 (gab es da einen halben Tag etwa 17,5 zwischen dem 17. und 18. Juni 1800 oder wie haben sich die Damen und der aus Öffentlichen Geldern bezahlte Chefdramaturg das gedacht?) wird mit fadenscheinigen Argumenten und Plattitüden zu begründen versucht.

Das Regieteam entfernt sich selbstgefällig mit Billigung des Intendanten Dr. Klügl von Zeit, in der die Autoren das Original ansiedeln - in ein Irgendwann:


Alexandra Szemereäy:

Der historische Hintergrund ist der Generator eines gewissen Realismus, durch den die Personen des Stücks sehr glaubwürdig erscheinen. Wichtiger als eine historische Fixierung war für uns aber die Geisteshaltung, die sich durch die Personen ausdrückt und die geprägt ist durch das Leben in einem totalitären und zentralisierten Machtsystem.

Solche Situationen sind nicht an das Jahr 1800 gebunden und existieren bis heute.
 

Magdolna Parditka:

Eine zu genaue historische Festlegung und Distanzierung könnte die Brisanz des Stoffes sogar entschärfen. Es gibt in unserer Inszenierung natürlich historische Assoziationen, die aber nie ganz konkret werden. Die bedrückende Nachkriegsstimmung, in der sich das Geschehen abspielt, könnte irgendwo in Europa und irgendwann in den 50er- oder 60erJahren des vergangenen Jahrhunderts herrschen, aber es könnte auch heute sein.
 

Quelle: Originalbeitrag von Klaus Angermann für die Seitenbühne Oktober/November 2014
(Magazin der Staatsoper Hannover).


 

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Diese Aussagen werden als ’Musiktheaterpädagogisches Begleitmaterial zu Tosca’ den Schulen zur Verfügung gestellt.

Im beobachteten und nachgefragten Fall, war die betroffene Lehrkraft nicht in der Lage den Schülern vorzugeben, dass es sich hier um eine Täuschung der Zuschauer handelt, wenn denn das Werk aus dem historischen Zusammenhang gerissen wird und nur des Gags wegen einen anderen als den vorgegebenen Zeitrahmen erhält.

Sie hatte unkritisch gelesen.
Damit wurden hier weder Schule, noch Theater dem Bildungsauftrag gerecht.

So nehmen Schüler inszenatorische Fehlinterpretationen als Realität wahr und stellen – schulisch fehlgeleitet - die Irreführung nicht fest.
Dass Diktatur und Terror auch zu anderen Zeiten möglich ist, steht außer Zweifel. Die Tosca von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa mit der Musik von Giacomo Puccini jedenfalls spielt in Rom am 14. Juni 1800 im Rahmen der Kämpfe bei Marengo.


 

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Um 'Missverständnisse' zu vermeiden:

Als Zeitungs- / Theater-Abonnent und Abnehmer von voll bezahlten Eintrittskarten aus dem freien Verkauf der Theater verstehen wir diese Besprechungen und Kommentare nicht als Kritik um der Kritik willen, sondern als Hinweis auf - nach meiner Auffassung - Geglücktes oder Misslungenes.

Neben Sachaussagen enthalten diese Texte auch Überspitztes und Satire.

Hierfür nehmen wir den Kunstvorbehalt nach Artikel 5, Grundgesetz,
in Anspruch.